Shelby Lynnes Stimme, die zu zwei Teilen aus Alabama-Sonnenschein und einem Teil aus Memphis-Regensturm zusammengemixt zu sein scheint, gilt eines der großartigsten Instrumente in der gesamten Popmusik. Und auf ihrem neuen Album »I Can’t Imagine« kommt diese Stimme, dezent und sehr flexibel von einer exzellenten Band unterstützt, besser denn je zuvor zur Geltung. Dazu trägt auch bei, dass die zehn prickelnden neuen Songs die unverkennbare Handschrift der Grammy-Preisträgerin tragen.
Die Stücke reflektieren das breite Spektrum von Lynnes musikalischen Einflüssen: von Southern Soul über Rhythm’n’Blues aus New Orleans sowie kalifornischem Country & Western bis hin zum leidenschaftlichen Sozialbewusstsein eines Woody Guthrie und den bluesigen Vokalisierungen einer Billie Holiday. Als Künstlerin, die stets auf maximale Unabhängigkeit, Authentizität und Originalität bedacht ist, nimmt Shelby Lynne längst einen Platz an der Seite gleichgesinnter Musik-Renegaten wie Neil Young, Gram Parsons, Bobbie Gentry, Emmylou Harris, Willie Nelson, Bob Dylan und Johnny Cash ein. Und mit »I Can’t Imagine«, ihrem besten und bewegendsten Album seit dem 1999 erschienenen Meilenstein »I Am Shelby Lynne«, unterstreicht sie diesen Rang eindrucksvoll. Bei dem Album wirkte Ron Sexsmith als Co-Writer mit.
Auch bei diesen Sessions hatte Shelby Lynne wieder Ambitionen, eine ziemlich perfekt arrangierte Produktion à la Eagles vorzulegen.
(Stereo, Juni 2015)
Für alle, die keine Zeit zum Lesen haben: Ihr bestes Album seit langer, langer Zeit. Für alle anderen: Hier wächst zusammen, was zusammengehört. Schon durch die liebevolle Aufarbeitung des ebenso zentralen wie unvergleichlichen I Am Shelby Lynne-Albums bewies das ehrenwert-erfahrungsreiche Rounder-Label die nahezu naturgegebene Verbindung, die zu der ebenso eigenwilligen wie ungebundenen Singer-Songwriterin mit der einzigartig samt-rauchigen, seelenvollen Stimme besteht. Ganz folgerichtig erscheint auch ihr 2015er Studiovollwerk im ebenso schützenden wie angemessenen Heimathafen, und entpuppt sich als die Zusammenführung alles bisher Durchlebten und Dargebotenen, als Vereinigung aller verehrter Lynne-Liebenswürdigkeiten, als reifer Rückblick in eine gelassen-gleißende Zukunft. Ganz, als hätte sie meine Lobeshymnen auf das jüngste Schwester-Werk gelesen und meinen unterschwelligen Unmut bezüglich ihres eigenen Veröffentlichungs-Verhaltens zu Herzen genommen, schuf eine der Gallionsfiguren des Americana-Soul ein 10-Track-Album, das ihre tiefe Seele, ihre vielschichtige Kunst, ihr ganzes Gefühl in sich trägt, fast nebenbei ihre vielfältigen Talente bündelt und auf einen bewegenden Punkt bringt, Alternative- mit Nashville-Country vereint, sanft akustische Folk-, Balladen- und Blues-Elemente einfließen lässt, New Orleans-Groove und hymnischen, von verzerrter Neil Young-Gedächtnis-Gitarre getriebenen Roots-Rock atmet, beseeltes Soul-Sentiment und himmlische Gospel-Harmonien spüren lässt, und der mitreissend magischen Melange durch ihren herztief berührenden Gesang den eigenen, unvergleichlichen Stempel aufdrückt. Lange ließ sie uns auf ein Studio-Album-Lebenszeichen warten, aber das treue Harren hat sich mehr als gelohnt: Zeichneten sich einige ihrer letzten Alben immer wieder durch vereinzelte Glanzlichter aus, so ist I Can’t Imagine ein einziges, abgeklärtes, strahlendes Glanzlicht geworden. Welcome back, Shelby!
(cpa, Glitterhouse)